Kinderschutz institutions­über­greifend und inter­disziplinär

Dr. Angela Bergmann, Gesundheitsamt Düsseldorf - Zahnärztlicher Dienst, berichtet über die Fortbildung des Gruppenprophylaxe-Zirkels Düsseldorf am 31.08.2022:

Das gemeinsame Ziel der Fortbildung war die interdisziplinäre Verständigung und der Wissenstransfer zum Thema Kinderschutz in der Zahnmedizin. In der Gruppe der Teilnehmenden waren daher neben den in der Zahnmedizin und/oder Gruppenprophylaxe Tätigen aus Praxis und ÖGD auch Kinderärztinnen und -ärzte aus dem Sachgebiet Kinder- und Jugendgesundheit im Gesundheitsamt und der Universität Düsseldorf, Bereich Versorgungsforschung im Kindes- und Jugendalter, eine Gesundheitswissenschaftlerin aus dem Bereich Versorgungsforschung, Kinderkrankenschwestern aus dem Bereich Sozialpädiatrie und Kinder- und Jugendgesundheit im Gesundheitsamt sowie Fachkräfte für Kinderschutz aus dem Gesundheitsamt.

Geladen waren zwei Referenten: aus der Medizinischen Hochschule Hannover Herr Dr. Reinhard Schilke und aus dem Öffentlichen Gesundheitswesen Dr. Pantelis Petrakakis, Leiter des Zahnärztlichen Dienstes im Gesundheitsamt des Rhein-Erft-Kreises (REK).

Dr. Petrakakis eröffnete die Fortbildung mit seinem Bericht über das Konzept (Stufenmodell) des Zahnärztlichen Dienstes des REK, welches angelehnt an das Vorgehen nach § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) entwickelt wurde. Die Ziele des Stufenmodells sind die zeitnahe zahnärztliche Versorgung der betroffenen Kinder, die Konkretisierung des Verdachts einer Kindeswohlgefährdung bei „Dental neglect“ (Vernachlässigung der notwendigen Mundhygiene, verursacht durch absichtliches oder unabsichtliches Fehl-/Verhalten der Erziehungsberechtigten) und die Weitergabe der Information an das zuständige Jugendamt. Im Rahmen der aufsuchenden zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchung werden Kinder mit auffallenden oralen Befunden und/oder dem Verdacht auf dentale Vernachlässigung im Rhein-Erft-Kreis im Rahmen des Konzepts gesondert erfasst. Die Erziehungsberechtigten dieser Kinder werden persönlich angeschrieben und aufgefordert, die mundgesundheitliche Beeinträchtigung Ihres Kindes zu beheben. Die Nachverfolgung dieser Kinder ist engmaschig, sie erfolgt bei Unterlassung in drei standardisierten Stufen bis zur Meldung ans Jugendamt wegen begründetem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung.

Dr. Petrakakis schilderte, dass Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht mit ihren Kindern zum Zahnarzt gehen - nicht jedes Kind mit Karies erlebt eine Kindeswohlgefährdung. Häufig spielten Faktoren wie sprachliche Barrieren, mangelnde Bildung, Angst vor Kosten oder Zahnarztangst der Eltern eine Rolle. Auch in diesen Fällen sei es wichtig, mittels gezielter niederschwelliger Ansprache und Aufklärung durch die Zahnärztinnen und Zahnärzte selbst bzw. mittels Lotsen oder Vermittlern aus Schule und städtischen Institutionen die Eltern dazu zu bewegen, ihre Kinder zahnärztlich behandeln zu lassen. Das ist nicht immer angenehm, Eltern fühlen sich persönlich angegriffen und reagieren dementsprechend, schilderte Dr. Petrakakis. Im Gespräch könne man aber häufig die Missverständnisse oder Konflikte ausräumen, die meisten Eltern wollen für ihre Kinder nur Gutes. Mittels mehrsprachiger Informations- und Aufklärungsbögen könne man manche Sprachbarriere überbrücken, betonte er.

Bei den wenigen Eltern, die ihren Kindern den Zugang zu einer zahnärztlichen Versorgung tatsächlich verweigern, sei eine präzise Dokumentation und entschlossenes Handeln für das Wohl des Kindes wichtig. Bei Unsicherheit empfahl er den zahnärztlich Tätigen den Kontakt mit speziell ausgebildeten Fachkräften für Kinderschutz. Diese findet man unter anderen bei den Pädiaterinnen und Pädiatern oder den Mitarbeitenden bei den Frühen Hilfen im Kinderschutz im Gesundheitsamt oder Jugendamt. Kooperationsverträge helfen bei der interdisziplinären Zusammenarbeit.

Dr. Reinhard Schilke, beteiligt bei der Erstellung der Kinderschutzleitlinie aus dem Jahr 2018, referierte anschließend über das Thema “Die S3-Leitlinie im Kinderschutz, Handlungsempfehlungen für Mitarbeitende im Kinderschutz“. Mit seinem ausführlichen Überblick über die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Elternschaft, die Formen und Häufigkeit von Kindesmisshandlung, dem Versuch der Definition von Vernachlässigung, den Risikofaktoren für Kindesmisshandlung, den gesetzlichen Regelungen zum Kindesschutz und ihrer Umsetzung in der Kinderschutzleitlinie liefert er allen Beteiligten einen umfassenden Einblick in das Thema.

Kindesmisshandlung im zahnmedizinischen Fachbereich umfasse die körperliche Misshandlung und die Vernachlässigung. Ab dem Jahr 2020 sei auch die psychische Vernachlässigung als neuer Parameter bei der Misshandlung mit aufgenommen worden, erläuterte er. Im Zuge des ersten Jahres in der Pandemie sei es laut Statistischem Bundesamt 2021 zu fast 10 % mehr Fällen von Kindeswohlgefährdungen gekommen. Jedes dritte betroffene Kind war jünger als fünf Jahre, die Vernachlässigung sei am häufigsten aufgetreten.

Zum Begriff der Vernachlässigung klärte er auf, dass diese „die andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns durch sorgeverantwortliche Personen, welche zur Sicherstellung der seelischen und körperlichen Versorgung des Kindes notwendig wäre“ sei. Gemäß Schone et al. aus dem Jahr 2007 zitiert er: „Die durch Vernachlässigung bewirkte chronische Unterversorgung des Kindes durch die nachhaltige Nichtberücksichtigung, Missachtung oder Versagung seiner Lebensbedürfnisse hemmt, beeinträchtigt oder schädigt seine körperliche, geistige und seelische Entwicklung und kann zu gravierenden bleibenden Schäden oder gar zum Tode des Kindes führen.“

Ein daraus ableitbarer, chronischer Mangel hinsichtlich der Gesundheitsversorgung, der Ernährung und der Hygiene könne man insofern aus zahnmedizinischer Sicht als Richtschnur für eine Definition der dentalen Vernachlässigung formulieren. Das bedeute konkret, dass die Eltern ihre Fürsorgepflicht in diesen Punkten nicht ausreichend wahrnehmen. Gesundheitliche Probleme werden nicht bemerkt oder falsch eingeschätzt, Früherkennungs- oder Vorsorgeuntersuchungen nicht angenommen oder die Gesundheit werde durch fahrlässiges Verhalten in Bezug auf die Ernährung und die Mundhygiene gefährdet.

Die Beurteilung eines solchen Verhaltens unterliege kulturellen Standards und gelte nicht unwidersprochen als Kindesmisshandlung, zitierte er aus dem im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelten Nationalen Zentrum für Frühe Hilfen und dem Kinderschutz-Zentrum Berlin.

Gerade in der Coronapandemie ist es im Zuge der Schließung von Bildungseinrichtungen oder Homeoffice vermehrt zu einer Überforderung der Eltern gekommen, die als häufigste Ursache für eine Vernachlässigung angesehen wird. Das Evidenzlevel zu Studien, die Kariesprävalenz mit Vernachlässigung korrelieren, ist heterogen und wurde im Leitlinienbeschluss genau analysiert, berichtet er. Dennoch existieren Daten, die aufzeigen, dass unbehandelte, kariöse Zahnflächen ein Zeichen für Vernachlässigung sein können. Die Kinderschutzleitlinie bewertet es als einen gewichtigen Anhaltspunkt für eine Vernachlässigung, wenn Eltern / Personensorgeberechtigte ihren Kindern eine indikationsgerechte zahnärztliche Behandlung vorenthalten, nachdem sie über die Art und das Ausmaß der Karies, den Nutzen einer Behandlung und den Zugang zu diesen Behandlungsoptionen informiert wurden. Außerdem wird bei kleineren Kindern eine fehlende Unterstützung durch die Eltern bei der täglichen Mundhygiene als Hinweis auf eine Vernachlässigung angesehen.

Die Einschätzung von dentaler Vernachlässigung gehöre jedoch in fachkundige Hände, betonte er, das sei nicht so einfach. Es gäbe gemäß Kinderschutzleitlinie eine Empfehlung mit starkem Konsens und Empfehlungsgrad A, die besagt, dass „es keinen Grenzwert für die Anzahl kariöser Zähne oder keine anderen spezifischen Erkrankungen gäbe, die zwangsläufig zu der Diagnose Vernachlässigung führen würde“. Alle Regelungen zu Rechtsgrundlagen und zum Vorgehen bis zum rechtfertigenden Notstand gemäß § 34 StGB seien u.a. im Bundeskinderschutzgesetz, im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz und in der Kinderschutzleitlinie niedergelegt.

Abschließend erläuterte er im Detail das Vorgehen gemäß § 4 KKG im Einzelnen und ruft insbesondere die Kolleginnen und Kollegen, die Früherkennungs- und Vorsorgeuntersuchungen (mit-) durchführen auf, sich in Bezug auf Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und -missbrauch zu sensibilisieren, interdisziplinäre Netzwerkarbeit mit beteiligten Professionen zu etablieren und zu pflegen sowie sich in diesen Themenbereichen fortzubilden.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten bei diesem intensiven Treffen die Möglichkeit, anhand von präzisen Definitionen, anschaulichen Bildern und dem reichen Erfahrungsschatz im zahnmedizinischen praktischen Kinderschutz und auch im Austausch mit den Behörden Wissen zu erwerben. Der Einblick in die Tätigkeit des bereitwillig Auskunft gebenden Zahnarztes aus der Medizinischen Hochschule Hannover, der auch interdisziplinär als versierter Vermittler bekannt ist, bestärkte alle Teilnehmenden aus Universität, Gesundheitsamt, niedergelassenen Praxen, Zahnärztekammer und KZV im gemeinsamen Denken und Handeln für das Kindeswohl.

Zurück