Wie viel muss entfernt werden?
„The seal is NOT the deal“
Die Idee hinter der selektiven Kariesexkavation ist, einen dichten adhäsiven Verschluss über dem verbliebenen kariös veränderten Dentin aufzubringen, um so die Kariesbakterien vom Zugang zu fermentierbaren Kohlenhydraten abzuschneiden. Eine bakteriendichte Restauration soll eine adäquate Ernährung der Mikroorganismen und damit eine weitere Infektion verhindern. Die Bakterien sollen unter der Füllung „verhungern“. Die adhäsive Versiegelung des kariösen Dentins arretiert so die Kariesprogression. Dies führt demzufolge nicht zu mehr klinischen Misserfolgen als die vollständige Kariesexkavation, vielmehr erscheint die selektive Kariesentfernung im Vergleich zur vollständigen Exkavation sogar überlegen zu sein [Kidd, 2004; Schwendicke et al., 2013; Schmidt et al., 2024].
Auch zwei systematische Cochrane Reviews kamen zu dem Schluss, dass die selektive Kariesexkavation klinische Vorteile hinsichtlich der Vitalerhaltung der Pulpa hat und der vollständigen Kariesexkavation überlegen ist. Durch selektive Kariesexkavation könnten signifikant mehr Zähne pulpavital erhalten werden. Daher sollte in pulpanahen Bereichen auf eine vollständige Entfernung sämtlichen kariös veränderten Dentins verzichtet werden. Diese Empfehlung ist demnach evidenzbasiert [Ricketts et al., 2013; Schwendicke et al., 2021].
So kam auch die Deutsche Gesellschaft für Zahnerhaltung (DGZ) 2017 in einer wissenschaftlichen Mitteilung zu dem Schluss, dass eine sorgfältig durchgeführte selektive Kariesexkavation heute als das zu bevorzugende Exkavationskonzept bei tiefer, pulpanaher Ausdehnung der Dentinkaries gilt [Buchalla et al., 2017]. Die Europäische Gesellschaft für Endodontie (ESE) befürwortet ebenfalls die selektive Kariesexkavation bei Zähnen mit reversibler Pulpitis, sofern eine Röntgenuntersuchung zeigt, dass die Karies nicht tiefer als bis zum letzten Dentinviertel Richtung Pulpa vorgedrungen ist und eine Restdentinschicht die kariöse Läsion von der Pulpakammer trennt [ESE, 2019].
Im Laufe der Zeit sinken die in der Literatur angegebenen klinischen Erfolgsquoten für die selektive Kariesexkavation von 87 Prozent nach einem Jahr [Labib et al., 2019] und 83 Prozent nach zwei Jahren [Maltz et al., 2018] auf 63 Prozent nach zehn Jahren [Maltz et al., 2011]. Dies sind nur einige beispielhafte Ergebnisse. Eine vollständige Literaturübersicht findet sich bei Schwendicke et al. [2021].
Die Alternative zur selektiven Kariesexkavation ist die vollständige Kariesexkavation bis hin zur Pulpafreilegung mit anschließender Überkappung. Aus der Literatur zur Vitalerhaltung der Pulpa ist aber bekannt, dass hier höhere klinische Erfolgsquoten erzielt werden können. Ricucci et al. [2023] berichteten, dass die Erfolgsquote der direkten Pulpaüberkappung mit Kalziumhydroxid bei 225 Zähnen von 148 Patienten nach 1, 5, 10, 20 beziehungsweise 35 Jahren bei der Nachuntersuchung 100 Prozent, 95 Prozent, 95 Prozent, 86 Prozent und 89 Prozent betrug.
Es gibt eindeutige histologische Beweise dafür, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Bakterien, die in der Kavität unter einer Restauration verbleiben, und einer Pulpaentzündung besteht. Histologisch ist das Belassen von Karies unter einer Füllung im Sinne einer selektiven Kariesexkavation nicht zu empfehlen, da dies nachweislich zu einer chronischen, subklinischen Entzündung des Pulpagewebes führt. Um die Pulpa langfristig vital zu erhalten, sollte das kariös-veränderte Dentin vollständig entfernt werden [Wang, 1953; Langeland und Langeland, 1968; Lichtenberg Crone, 1968; Langeland et al.; 1976; Langeland, 1981; Langeland, 1987; Ricucci und Siqueira, 2013; Ricucci et al., 2019; Ricucci et al., 2020].
Das Belassen von kariösem Dentin über der Pulpa ist vergleichbar mit dem Belassen oder Ansiedeln von Bakterien in der Nähe einer chirurgischen Wunde, die dann eine Entzündung unterhalten und zu Nekrosen führen kann [Ricucci et al., 2019]. Aus der Humanmedizin ist kein Behandlungskonzept bekannt, bei dem ein infiziertes, pathologisch verändertes Körpergewebe belassen wird, obwohl es technisch problemlos entfernt werden kann.
Aus all diesen Gründen empfehlen sowohl die Deutsche Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET) als auch die Amerikanische Gesellschaft für Endodontie (AAE) in ihren aktuellen wissenschaftlichen Stellungnahmen zur Vitalerhaltung der Pulpa die vollständige Kariesexkavation. Nur dadurch ist es möglich, den tatsächlichen Zustand des Pulpagewebes klinisch zu beurteilen. Verbleibt kariöses Dentin am Kavitätenboden, behindert dies die Sicht auf mögliche Pulpaveränderungen wie Hyperämie oder Nekrosen (Abbildung 1). Auch besteht das Risiko, eine bereits bestehende minimale Freilegung der Pulpa zu übersehen, wenn eine dünne Schicht kariösen Dentins an der tiefsten Stelle der Kavität verbleibt. Wissenschaftlich lässt sich zudem eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit der derzeit propagierten selektiven Kariesexkavation gegenüber den vitalerhaltenden Maßnahmen nach Freilegung der Pulpa nicht feststellen [Dammaschke et al., 2019; AAE, 2021].
Für eine langfristig erfolgreiche Vitalerhaltung der Pulpa sollte daher auch in tiefen Kavitäten die Karies vollständig exkaviert werden. Abschließend muss die Kavität desinfiziert (Natriumhypochlorit) und der Pulpa-Dentin-Komplex mit einem geeigneten Überkappungsmaterial (Kalziumsilikatzement) versorgt werden [Dammaschke & Benjamin, 2021; Dammaschke et al., 2025].
Letztlich ist die Frage, was man mit seiner Behandlung erreichen möchte. Eine selektive Kariesexkavation führt nach der Behandlung vermutlich „nur“ zu einer klinischen Symptomlosigkeit, aber langfristig nicht zu histologisch gesundem Pulpagewebe. Exkaviert man hingegen vollständig, bleibt das Pulpagewebe auch nach direkter Überkappung oder partieller Pulpotomie zu einem hohen Prozentsatz histologisch gesund.
Da die pulpalen Veränderungen bei Belassen von Karies unter Füllungen in der Regel langsam ablaufen [Langeland, 1981], besteht für die selektive Kariesexkavation möglicherweise dann eine Indikation, wenn die klinische Behandlungssituation schwierig ist und Zähne nur (noch) eine begrenzte Verweildauer im Mund haben, wie zum Beispiel bei sehr jungen Patienten im Milchgebiss oder sehr alten Patienten mit Grunderkrankungen.
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