2016 - Kongress in Reutlingen
Öffentliche Gesundheit im Spiegel der Zeit
Unter diesem Motto stand der 66. Wissenschaftliche Kongress der Verbände der Ärzte und der Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, der vom 28. bis 30. April 2016 in der Stadthalle Reutlingen stattfand. Vielfältig und interessant waren die Themen der zahnmedizinischen Fachvorträge.
Herr Dr. U. Niekusch (Heidelberg) sprach in seinem Auftaktvortrag über die Entwicklung der Jugendzahnpflege in Baden-Württemberg. Schon vor über 100 Jahren gab es in dieser Region hauptamtlich angestellte Jugendzahnärzte, die in den Städten in Schulen stationiert und in den Landkreisen als mobile Schulzahnklinik auf Rädern unterwegs waren. 1975 wurde das „Gesetz über die Jugendzahnpflege in Baden-Württemberg“ verabschiedet. Heute sind in den 37 Arbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege 50 Zahnärztinnen und Zahnärzte in den Gesundheitsämtern und 1356 Patenzahnärzte aus Praxen eingebunden.
Das Thema von Herrn Dr. G. Elsäßer (Stuttgart) war die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in der zahnmedizinischen Versorgung. Obwohl die Konvention bereits 2006 verabschiedet wurde, 2008 in Kraft trat und 2009 in Deutschland ratifiziert wurde, gibt es nach wie vor große Defizite bei der Umsetzung. Z. B. sind nur ca. 55 Prozent der zahnärztlichen Praxen rollstuhlgerecht eingerichtet. Herr Dr. Elsäßer konnte jedoch die verschiedenen Bemühungen der Zahnärztekammer Baden-Württemberg bei der Unterstützung der Kollegenschaft für die Betreuung und Behandlung von Menschen mit Behinderung vorstellen.
Traditionsgemäß war der Freitag der Kongresstag mit mehreren Vortragsblöcken am Vormittag und Nachmittag. Der Tag startete mit einem in gewohnt brillanter Darstellungsweise gehaltenen Vortrag von Herrn Prof. J. Einwag (Stuttgart). Er beschäftigte sich mit der Frage: Mikrobielle Tests in Kariologie und Parodontologie - Halten sie, was sie versprechen? Karies, Gingivitis und chronische Parodontitis sind keine Infektionskrankheiten sondern Biofilm-induzierte Erkrankungen, erklärte Prof. Einwag einleuchtend. Deshalb war es nachvollziehbar, dass die Identifikation einzelner Bakterien mithilfe von Tests nicht zielführend, ein therapeutischer Nutzen also nicht ersichtlich ist. Die unspezifische Biofilmabwehr („Der Dreck muss weg!“) sollte im Vordergrund stehen. Dies frühzeitig als Ritual zu verselbständigen, sei eine wesentliche Aufgabe der Gruppenprophylaxe.
Frau Dr. P. Herrmann (Hannover) stellte eines der mit dem „Präventionspreis Frühkindliche Karies“ ausgezeichneten Programme vor. Nach den positiven Erfahrungen mit zahnmedizinischer Prävention an der Uni Hannover, die bei der Schwangeren beginnt, sollte dies auch Kariesrisikogruppen erreichen. Die Komm-Struktur, sprachliche Barrieren und eine geringe Gesundheitskompetenz dieser Bevölkerungsgruppe stellten Hindernisse bei der Umsetzung dar. Durch die Integration in die „Frühen Hilfen“ im Modellprojekt Pro Kind sollte eine Verbesserung der Zahngesundheit erreicht werden. Die Ergebnisse der Evaluation zeigten, dass die Frauen, die durch das Projekt begleitet wurden, häufiger zur zahnärztlichen Untersuchung gingen und über ein höheres Wissen verfügten. Gerade in Migrationsgruppen zeigte sich ein positiver Effekt. Die Referentin empfahl die Einbeziehung und Schulung der Hebammen und der Familienbegleiterinnen, eine wiederkehrende Demonstration der Mundhygienemaßnahmen und bei Vorhandensein frühkindlicher Karies eine frühzeitige Behandlung.
Die „Erfolge der langjährigen Gruppenprophylaxe in Rheinland-Pfalz“ waren Thema von Frau Prof. B. Willershausen (Mainz). Nach der Historie und der vergleichenden Darstellung der Kariesprävalenz stellte sie die neue „Vereinbarung zur Umsetzung der zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe in den Kindertagesstätten“ (kurz Trägervereinbarung) vor, die Anfang des Jahres das Kinder- und Jugendministerium und die Landesarbeitsgemeinschaft Jugendzahnpflege (LAGZ) gemeinsam mit den Kita-Trägern und dem Landeselternausschuss in Rheinland-Pfalz unterzeichnete. Damit soll das Zähneputzen fest in den Alltag der rheinland-pfälzischen Kindertagesstätten integriert und im pädagogischen Konzept der Kitas verankert werden.
Anhand der vorhandenen Studienlage verdeutlichte Herr Prof. C. Dörfer (Kiel), dass die Evidenz für die nachsorgende Behandlung in der Parodontologie eher mangelhaft ist. Für die Wirksamkeit der Prävention parodontaler Erkrankungen gibt es jedoch zahlreiche Studien, aus denen allgemeine Empfehlungen abgeleitet werden können. Die mechanische Plaquekontrolle unter professioneller Anleitung ist unerlässlich. Es werden Bürsten mit kleinem Kopf und mittelharten, abgerundeten Borsten empfohlen, wobei wieder aufladbare, elektrische Zahnbürsten effektiver in der Plaquereduktion gegenüber Handzahnbürsten sind. Bei der Reinigung der Zahnzwischenräume haben Interdentalraumbürsten Vorrang, für Zahnseide liegt keine ausreichende Evidenz vor. Die Ergänzung mit Mundspüllösungen sollte fallbezogen abgewogen werden.
Einen Paradigmenwechsel in der Zahnheilkunde prophezeite Herr Prof. U. Schlagenhauf (Würzburg) mit seinem Vortrag. Eine veränderte Sichtweise auf die Entstehung von Parodontalerkrankungen hin zu einer Definition als Dysbiose des humanen Mikrobioms mit der Folge einer inadäquaten, chronisch inflammatorischen Fehlregulation des mukosalen Immunsystems kann Grundlage sein für die Erforschung der Wirkung von Probiotika in der Zahnheilkunde. Neue klinisch-experimentelle Interventionsstudien zeigten, dass bei Gabe probiotischer Präparate gingivale Entzündungen weniger ausgeprägt verliefen und die Abheilung parodontaler Läsionen nach Scaling und Root Planing gefördert wurde.
Einen Erfahrungsbericht über die epidemiologische Begleituntersuchung zur Gruppenprophylaxe nach ICDAS in Baden-Württemberg gab Herr Dr. Pfaff (Stuttgart). Nachdem er im vergangenen Jahr die Kalibrierung der Untersucher und den Zeitbedarf der Untersuchungen vorgestellt hatte, konnte Herr Dr. Paff nun über das Zeitmanagement und erste Ergebnisse berichten.
Der Kieferorthopäde Herr Dr. H. Madsen aus Ludwigshafen prangert seit einigen Jahren das aggressive Marketing und die ineffizienten Behandlungsmethoden seiner deutschen Kollegen an. Nur ausgewählte Befunde - er nannte hier Progenie, frontaler Kreuzbiss, seitlicher Kreuzbiss mit schmalem Oberkiefer, sehr großer Überbiss und andere für Laien auffällige Abweichungen - rechtfertigen einen frühen Behandlungsbeginn. Seiner Meinung nach sind in den meisten Fällen geeignete festsitzende Apparaturen ausreichend. Diese verkürzen die Behandlungsdauer und damit die Kosten erheblich. (BZÖG-Mitglieder finden einen ausführlichen Vortrag im internen Bereich.)
Am Sonnabendmorgen warb Herr Dr. E. Ludwig (Stuttgart) leidenschaftlich für das Konzept der Zahnärzteschaft in Baden-Württemberg für eine zahnärztliche Betreuung von Menschen mit Unterstützungsbedarf. Der Arbeitskreis Alterszahnheilkunde und Behindertenbehandlung der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg (AKABeBW) bietet Schulungen für Pflegekräfte an, die gemeinsam mit Kollegen aus dem ÖGD realisiert werden. Formulare, Vorträge sowie das Ausbildungs- und Fortbildungskonzept sind online abrufbar (www.lzkbw.de).
Herr Dr. M. Brunner (Pforzheim) verwendet seit geraumer Zeit eine Intraoralkamera zur Karieserkennung bei den Kindern in den Einrichtungen. Er berichtete über die große Akzeptanz bei den Kindern. Weitere Vorteile für ihn waren die Visualisierung der Befunde für den Patienten, eine rückengerechte Arbeitshaltung für den Untersucher und die äußerst gute Erkennbarkeit von Karies. Bei der Befunderhebung im Rahmen der DAJ-Studie 2015/16 nach ICDAS in Baden-Württemberg wurden die Ergebnisse der Untersuchung mit der Intraoralkamera mit den Ergebnissen der parallel erfolgten Untersuchung mit Spiegel und Sonde verglichen. Es wurden dabei fast vollkommene Übereinstimmungen der Befunde festgestellt. Grenzen für den Einsatz der Intraoralkamera bei zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchungen sah Kollege Brunner bei der Untersuchung von schwerbehinderten und motorisch sehr unruhigen Kindern.
Zu statistischen Aspekten der Planung und Auswertung zahnärztlicher Untersuchungen in Kindergärten und Schulen referierte Herr Dr. M. Herzog (Radolfzell). Nicht immer werden die im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen aufgesuchten Einrichtungen nach statistischen Gesichtspunkten ausgewählt, sondern personelle Ressourcen, soziale Brennpunkte und Verfügbarkeiten spielen eine Rolle. Es entsteht ein Design Effekt, der als Rechenfaktor bei der Fallzahlplanung als auch bei der Auswertung Berücksichtigung finden sollte.
Vertreter der Logopädischen Praxis in Wangen beendeten den wissenschaftlichen Vortragsteil des Kongresses. Sie boten abwechselnd Wissenswertes zur Schnittstelle zwischen Logopädie und Zahnmedizin dar und zeigten, wie eine Therapie die Fehlfunktion von Lippen und Zunge verändern und eine kieferorthopädische Behandlung unterstützen kann.
Am 29.04.2016 fand die jährliche Mitglieder- und Delegiertenversammlung statt. Das Protokoll ist im internen Bereich nachlesbar.
Jugendzahnpflege in Baden-Württemberg im Spiegel der Zeit | Herr Dr. Niekusch |
Umsetzung der UN-Behindertenkonvention in der zahnmedizinischen Versorgung | Herr Dr. Elsäßer |
Mikrobiologische Tests in Kariologie und Parodontologie - Halten sie, was sie versprechen? | Herr Prof. Einwag |
Integration der zahnärztlichen Gesundheitsfrühförderungbin die Frühe Hilfe - Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Modellprojekt "Pro Kind" | Frau Dr. Herrmann |
Erfolge der langjährigen Gruppenprophylaxe in Rheinland-Pfalz | Frau Prof. Willershausen |
Vor- und Nachsorge in der Parodontologie. Wie ist die Evidenz? | Herr Prof. Dörfer |
Probiotika in der Zahnheilkunde - der nächste Paradigmenwechsel? | Herr Prof. Schlagenhauf |
Epidemiologische Begleituntersuchung zur Gruppenprophylaxe nach ICDAS - Erfahrungsbericht aus Baden-Württemberg | Herr Dr. Pfaff |
Kieferorthopädie in Deutschland: aggressives Marketing und ineffizente Behandlung | Herr Dr. Madsen |
Die zahnärztliche Betreuung von Menschen mit Unterstützungsbedarf. Das Konzept der Zahnärzteschaft in Baden-Württemberg | Herr Dr. Ludwig |
Möglichkeiten und Grenzen einer Intraoralkamera bei zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchungen in Kitas und Schulen | Herr Dr. Brunner |
Statistische Aspekte der Planung und Auswertung zahnärztlicher Untersuchungen in Kindergärten und Schulen | Herr Dr. Herzog |
Der dynamische Mundraum. Schnittstelle zwischen Zahnheilkunde und Logopädie | Frau Jenny |